Die Wahlen in Serbien sind beendet worden. Lassen wir uns für einen Moment zu Fußball zurückkehren. Obwohl das ja nicht mein Metier ist – auf dem Fussballplatz des Internats, immer wenn zwei Alpha-Jungs sich aus der herumstehenden Spielerschar ihre Mannschaft zusammenwählten, bin ich als Letzter übriggeblieben. Wer das falsche Los gezogen hatte, musste mich wohl oder übel nehmen.

Aber dieses Internat stand immerhin in Bayern, man musste sich deshalb auch als absolut Ahnungsloser in Sachen Fussball positionieren. Das heißt, man musste sich entscheiden, von irgendeiner Mannschaft Fan zu sein. Man brauchte dann in der Regel so ein leeres Album, und musste am Kiosk für 10 Pfennig pro Tüte Bilder von Fussballern kaufen und sie hineinkleben. Dann war man ein Fan. Bei 2 Mark Taschengeld pro Woche war das nicht wenig. Aber es kostete schon immer einen Preis, wenn man dazugehören wollte.

So ist das im richtigen Leben. Man muss sich entscheiden! Viele haben sich für Bayern München entschieden. Wer entscheidet sich schon gerne für Verlierer? Der Zwang, dass man sich entscheiden muss, zusammen mit der Erfahrung, dass man sich für den Winner entschieden hat, das machte aus dem Verein Bayern München, wie man dort selbst sagt, eine „große Familie“. Mir kommt sie für eine Familie schon ein wenig groß vor. Aber das deutsche Wort „Sippschaft“ ist aus der Mode gekommen, und es wird – wenn überhaupt – nur noch in einer sehr negativen Bedeutung benutzt.

„Sippschaft“ wäre eigentlich so etwas in der Größenordnung irgendwo zwischen Familie und halber Nation. Zur Sippe gehören alle, bei denen eine DNA-Analyse des Bundes-kriminalamtes gerade noch eine entfernte genetische Verwandtschaft feststellen könnte. Die Sippschaft ist eigentlich so etwas wie die Zadruga. Nur hat die Zadruga im heutigen Serbien nicht so eine negative Bedeutung.

Jetzt stand der Chef der „Bayern München Zadruga“ vor Gericht, weil er das deutsche Finanzamt zuerst um 3,5, dann um 18, dann 27 und am Ende um 28,5 Millionen Euro Steuern betrogen hat. Das ist alles so nach und nach herausgekommen. Heute ist er zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber seine Anwälte werden Revision einlegen. Da man sein Gesicht praktisch überall auf der Welt kennt, sagt das Gericht, dass es keine Fluchtgefahr gibt. Deshalb darf er so lange auf freiem Fuß bleiben. Das hat er einigen Leuten in Serbien voraus, dass ihn die weltweite Bekanntheit vor der Versuchung schützt, zu fliehen, und der Haftbefehl daher bedenkenlos aus-gesetzt werden kann.

Nach dem heutigen Urteil haben beide staatlichen Fernsehkanäle eine Sonder-sendung zum Urteil über den Chef der Zadruga Bayern München gebracht. Das geschieht sonst nach einem großen Unglück wie einem Hochwasser oder der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

Heute also habe ich im Fernsehen die Fans von Bayern München vor dem Gerichts-gebäude gesehen, und ich habe sie vor allem reden hören. „Man soll statt dessen den Staatsanwalt einsperren“, sagte einer. Und „Wir halten zusammen!“ riefen die jungen Fans, und: „Uli, wir stehen hinter Dir!“ Und wie es in der bayerischen Zadruga üblich ist, riefen sie alle in ihrem eigenen Dialekt, den außerhalb der Zadruga kaum einer versteht. Sie nennen das ihre Identität. Identität heißt in ihrem Idiom: „Mia san Mia!“ Das kann wie ein sprachlicher Joker überall zum Einsatz kommen, wenn man sonst nichts mehr weiß. In diesem Fall heißt es auf Hochdeutsch: „Wir wollen unseren Uli als Präsidenten haben und der Rest der Welt geht uns am Arsch vorbei.“ Einige hielten Poster in der Hand mit der schönen Wortschöpfung: „sULIdarität“.

Uli, der Patriarch der Bayern-Zadruga hat der Deutschland-Zadruga 28 Millionen Euro Steuern vorenthalten. Manche von denen, die ihn auf dem Platz vor dem Gericht gegen das Gesetz in Schutz nehmen und ihn am liebsten auf ihren Händen in die wohl verdiente Freiheit und nach Hause in seine Villa tragen würden, sehen eigentlich so aus, als würden sie ihr Brot aus den Steuer-mitteln der Deutschland-Zadruga beziehen. Aber das ist ja nur das Brot! Für die Spiele hat immer der eigene Patriarch, der Uli, gesorgt. Brot und Spiele! Was wäre das eine ohne das andere!

Aber auch diejenigen Fans von Uli, die ihr Brot als Arbeiter oder Angestellte verdienen, müssten lange arbeiten, um auch nur einen Bruchteil der Summe auf ihrem Konto zu haben, die beim Uli nur die Steuerschuld ausmachte (nein: ausgemacht hätte). Und die Steuern musste der Uli ja nicht bezahlen für das, was er auf dem Konto hat, sondern nur für die Zinsen, die er dafür bekam.

Manchmal, wenn von Belgrad aus Leute vor ein fernes Gericht geflogen wurden, habe ich auch auf dem Trg Republike oder vor der Skupština solche Leute gesehen wie heute in München. Auch sie haben protestiert für einen Helden ihrer Zadruga und gegen den Ausverkauf ihrer Identität an so etwas ihrer Welt Fremdes wie das Recht. Fussball ist schließlich kein Schlecken von Kajsija-Marmelade! Da geht’s zur Sache! Zwar gibt es auch dort einen Schiedsrichter, aber der ist oft genug nichts weiter als ein Spielverderber.

Eine Frau aus dem Dorf, wo Uli wohnt, sagt heute dem deutschen Fernsehen, dass sie noch am letzten Montag den Uli beim ALDI gesehen hat. Uli beim ALDI, wahrscheinlich auch noch in Hemd und Hose von H&M! Jetzt, wo er so viele Steuern nachbezahlen muss. Da hat sie beim ALDI ihm viel Glück gewünscht, sagt sie, für die Urteilsver-kündung heute. Dann hat ihr der Uli sanft die Hand auf die Schulter gelegt und sich bedankt. „Das war sehr lieb“, sagt sie.

So ist das in einer guten Zadruga. Der Chef ist lieb – wenn man selbst lieb zu ihm ist.

Die Experten und Analysten sagen ja immer, dass es eigentlich „vernünftig“ ist, wenn zum Beispiel die Leute von den drei Zadrugas in Bosnien und Herzegowina immer nur wieder den Chef ihrer eigenen Zadruga wählen. Denn alle, die so wählen, tun es, weil sie sich in irgendeiner Form einen Vorteil davon erwarten. Also ist es doch nur logisch!

Nur im Rest Europas kann man diese Vernunft nicht verstehen, und auch dieses Unverständnis ist irgendwie logisch. Die in diesem Rest Europas glauben nämlich, ihre Vernunft sei allgemein (sie nennen es gerne „universell“) und es gäbe deshalb die Vernunft immer nur im Singular. Sie meinen deshalb, alles, was nicht zu ihrer Vernunft passt, sei automatisch unvernünftig.

Wenn es unter den Experten und Analysten einige Philosophen gäbe, würden sie sicherlich über die Frage in Streit geraten, ob alles was logisch ist, automatisch auch vernünftig ist. Kann es sein, dass der Weg vom Gedanken an den Vorteil zur Entscheidung auf dem Wahlzettel zwar ein logisch nachvollziehbarer ist, dennoch aber (unter Umständen) eine unvernünftige Entscheidung dabei herauskommt? – Ein Sokrates hätte mit einem Miloš gewiss einen schönen Dialog darüber führen können.

„Was, mein lieber Miloš, ist denn der Vorteil, den Du Dir erhoffst?“

„Naja, das oder jenes. Irgendwas braucht man ja immer. Und wenn man etwas kriegt, was man nicht braucht, kann man es ja jemandem geben, der dafür etwas hat, was ich brauchen könnte.“

„Und wie wirst Du in den Genuss dieses Vorteils kommen?“

„Na, das kriege ich von dem, den ich gewählt habe“ antwortet Miloš, und in seinen Gedanken scheint es ihm, als ob jemand freundschaftlich und sanft die Hand auf seine Schulter legte.

„Aber woher weiß der andere, dass Du ihn gewählt hast?“ fragt Sokrates.

„Ach, das wird er schon merken,“ sagt Miloš. „Er sieht mich in der Kirche, er trifft mich in der Kneipe von seinem Kum, ich grüße ihn nett, wenn ich ihn auf der Straße sehe….“

„Aber könnte es nicht trotzdem vorkommen, dass er Dich und Deinen Vorteil vergisst, dass er Dich übersieht?“

„So ist das Leben, das muss ich riskieren! Er ist ein Großer, ich bin ein Kleiner. Kann schon sein, dass er nicht dauernd an mich denkt. Er hat ja auch so viel um die Ohren…“

„Kommen wir zurück zum Anfang unseres Gespräches!“ sagt Sokrates. „Gib mir doch ein Beispiel für etwas, was Du Dir erhoffst!“

„Naja, meine Tochter, zum Beispiel, kommt aus der Schule. Sie braucht einen Platz an der Uni, ein Stipendium wäre auch nicht schlecht“, antwortet Miloš.

„Wie war ihre Prüfung?“ fragt Sokrates.

„Sehr gut!“ antwortet Miloš, und: „Der Apfel fällt nicht weit vom Baum!“ Dabei lächelt er stolz.

„Aber dann hat sie doch Anspruch auf ein Stipendium“, sagt Sokrates. „Warum erwartest Du für sie als eine Gunst, was doch ihr Recht ist?“

„Ach Sokrates,“ antwortet Miloš mit dem Ausdruck bedauernden Mitleids um den Mund. „Was seid ihr Philosophen doch für weltfremde Leute!“

***

So ist das Schicksal der Philosophen seit Platons Zeiten! So war es, bis einer in Serbien, genauer: in Subotica, die „Filozofija palanke“ erfunden hat. Seitdem gibt es mehrerer Philosophien und mehrere Vernünfte.

Deshalb brauchen wir in Deutschland den Fussball (und das Oktoberfest und die Volksmusik und Gartenzwerge und Kuckucksuhren und…) Das ist alles Zadruga! Bei Bier und Blasmusik werden Vorteile ausgetauscht. Was der eine hat, aber gerade nicht braucht, kann dem anderen gegeben werden, der dafür etwas hat, was ich gerade gut brauchen könnte. Und natürlich gehen auch Politiker – gerade Politiker – gerne dorthin, wo die Zadruga zusammensitzt. Sie gehen ins Stadion und ins Bierzelt, sie dirigieren gerne Blaskapellen beim Abspielen von Polkas und Walzern. Sie vereinbaren auch gerne Vorteile – Vorteile sind ja nicht per se etwas Schlechtes! Und Politiker sind ja auch nur Menschen.

Aber im Grunde muss es das ja alles geben, diese Milieus und ihre Feste und Versammlungen und rituellen Veranstal-tungen, damit sich der Staat und das politische Leben um so leichter von ihnen frei halten lassen. Die Zadruga soll da bleiben, wo sie hingehört, und sich nicht in den Staat einmischen. Sie soll ihre Finger vom Staat lassen! So war wenigstens die Theorie! Aber Bayern war schon immer der Theorie eher abgeneigt. Die Bayern sind eine Ansammlung von sehr praktisch veranlagten Leuten. Deswegen haben sie auf ihrem Territorium diese säuberliche Trennung schon seit Jahrzehnten wieder aufgehoben, und deswegen beginnt eine politische Karriere in Bayern damit, dass man zuerst Präsident einer Zadruga wird: zum Beispiel einer Sport-Zadruga (Turn-verein) oder einer Kultur-Zadruga (Gesangs-verein) und am besten auch noch einer Bauern-Zadruga (Verband Bayerischer Schweinezüchter), und man muss unbedingt öffentlich dokumentieren, dass man nicht zu den Gottlosen gehört. Sonst braucht man mit der politischen Karriere gar nicht erst anzufangen. Wenn das aber mal alles so funktioniert, dann steht man schon mit einem Fuß in einem Parlament, zuerst einem kleinen, lokalen, dann in einem größeren….

Das hat natürlich zur Folge, dass nicht immer die in politischen Dingen kompe-tentesten Menschen ins Parlament kommen (wenn wir unter politischem Talent ein wenig mehr verstehen als nur die Begabung, einen Gesangsverein zu leiten). Wie kommt es dann, dass Bayern zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Regionen Deutschlands zählt? Es kommt aus der Erkenntnis, dass auch die ganzen wichtigen Leute aus der Wirtschaft, die Manager und Vorstände und Aufsichtsräte, zusammen mit den wirklich wichtigen Leuten aus der Politik ja eigentlich so etwas sind wie eine Zadruga. In heutiger Sprache heisst das: die V.I.P-Lounge der Gesellschaft. Und wer hat die schönste V.I.P-Lounge in Bayern? Der FC Bayern in seinem Stadion! Und wer hat’s gebaut? Der Uli! Und nach wem ist es benannt? Nach der Allianz-Versicherung! Und…

Sicher, Deutschland wäre ärmer (kulturell, aber auch finanziell), wenn es Bayern nicht gäbe, und natürlich auch, wenn es „Bayern München“ nicht gäbe. Obwohl, sagen viele, die Bundesliga ohne Bayern München viel spannender wäre. Aber davon habe ich keine Ahnung, das kann ich nicht beurteilen. Aber viele Bayern sind fest davon überzeugt, dass Bayern viel reicher wäre (das nur finanziell, weil kulturell kann man sowieso nicht mehr reicher sein, als Bayern schon ist), wenn es Deutschland nicht gäbe.

Aber ganz sicher wäre Deutschland reicher (finanziell, aber auch kulturell) wenn der Präsident von Bayern München 28 Millionen Euro Steuern gezahlt hätte. Ungefähr 50 Millionen Euro Steuern hat der Uli ja ganz ehrlich gezahlt in seinem erfolgreichen Leben als Präsident und Unternehmer. Seine Wurstfabrik zahlt Steuern und die Angestellten der Wurstfabrik zahlen Steuern und die Angestellten von Bayern München zahlen Steuern. Der Verein selbst ist natürlich gemeinnützig, aber die Wirt-schaftsunternehmen, die der Verein besitzt, zahlen auch Steuern… Da kommt schon leicht eine Milliarde zusammen im Lauf eines Fussballer- und Managerlebens. Und da liegt der Gedanke nicht fern, dass es jetzt auch mal genug sein sollte für den Staat, wo man doch so viel für die Zadruga gleistet hat.

Es ist eben sehr kompliziert mit dem Staat! Der kann schöne Stadien bauen, in denen die Zadruga ihre Riten feiert. Aber wenn einer vor dem Stadion falsch parkt, kann er trotzdem abgeschleppt werden. Viele Sponsoren dürfen Millionen für den Bau des Stadions beisteuern und diese Millionen von ihren Steuern absetzen, so dass am Ende eigentlich der Staat wieder die Hälfte dieser Millionen bezahlt. Aber das ist Werbung für die Sponsoren und erhöht ihren Umsatz – und ihre Steuern. So ist das nun mal. Alles hängt irgendwie zusammen.

„So ist das!“ sagt Miloš zu Sokrates. „Wer soll da noch durchblicken?“

„Ja, so ist es“ antwortet Sokrates. „Drinnen im Stadion und im Bierzelt auf dem Oktoberfest kannst Du einen Vorteil finden. Und immer wenn Du einen gefunden hast, sitzt daneben einer, der ihn Dir gewähren muss. Draußen ist das anders. Draußen hast Du ein Recht. Um das Recht kannst Du kämpfen, wenn es Dir jemand verweigern will. Die Gunst bekommst Du nur, wenn Du Dich erniedrigst. – Du musst Dich nur entscheiden.“

 
Autor ist Direktor der CEEOL (Central and Eastern European Online Library).

Peščanik.net, 17.03.2014.