Das Massaker im Gefängnis Dubrava im Kosovo, im Mai 1999 begangen, gilt bereits seit Jahren als „der nächste große Fall“ der serbischen Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen. Zahlreiche Zeugen wurden verhört, mehrere getrennte Strafanzeigen sind eingelangt, zur Verfügung stehen forensische Befunde, Aussagen von Fachleuten und den überlebenden Opfern, die in unterschiedlichen Verfahren vor dem Haager Tribunal genutzt wurden. Bis heute wurde jedoch keine einzige Anklage erhoben.

Es besteht begründeter Verdacht, dass an den zweitägigen Morden an albanischen Häftlingen Beamte der serbischen Sonderpolizei beteiligt gewesen seien, welche gemeinsam mit auserwählten serbischen Insassen Kontrolle über das Gefängnis übernommen hätten, wie auch dass an der Planung und Organisierung der Verbrechen die damalige politische Spitze in Belgrad mitgewirkt habe. Derzeit sind auf der Liste der Verdächtigen 48 Personen angeführt und prioritär für die Ermittlung, die auf Anweisung der Staatsanwaltschaft vom Juni letzten Jahres eingeleitet wurde, sind die unmittelbaren Täter. Die hohen Tiere – Minister, Berater, Generäle und Hauptmänner in Miloševićs Apparat – werden eine der nächsten Ermittlungsphasen über die Verbrechen in Dubrava abwarten, falls diese jemals zustande kommt.

Die Strafvollzugsanstalt Istok, wie ihr Name offiziell lautete, als sie in den Achtzigerjahren als eine der größten und modernsten Gefängnisanlagen in der Region gebaut wurde, liegt im Westen Kosovos im Dorf Dubrava bei Istok. Von den anderen Gefängnissen im Strafvollzugssystem in Serbien unterschied es sich bloß durch seine moderne Architektur; hinter den Gefängnismauern herrschte dasselbe Mikroklima von Folter und Korruption. Wegen seiner eigentümlichen Lage erhielt Dubrava etwas mehr Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit; von insgesamt 46 politischen Häftlingen, die 1997 im Kosovo eingetragen waren, genossen 41 „schwedische Standards“ in Dubrava.

Bis Mitte 1998 waren die Kapazitäten des Gefängnisses wenig genutzt und in getrennten Blöcken waren um die vier hundert Häftlinge unterschiedlicher nationaler Angehörigkeit, vorwiegend Albaner, untergebracht. Mit den ersten Ankündigungen eines internationalen Militäreingriffs und laut späteren Zeugenaussagen der überlebenden Häftlinge, sollte es in Dubrava sehr rege werden. Mehrere Zeugen werden bestätigen, dass ein Teil der Anlage bis Mitte Herbst als Hauptquartier für Sondereinheiten der Polizei, angeführt vom bekanntesten serbischen Mörder dieser Art Milorad Ulemek „Legija“, diente, während in unmittelbarer Nähe auch Militäreinheiten verteilt waren. In Den Haag wurde Zeugenaussagen festgehalten, laut denen zur der Zeit von Dubrava aus Waffenangriffe auf die umliegenden albanischen Dörfer organisiert wurden.

Bis zum Beginn des NATO-Eingriffs am 24. März 1999 waren die Zellen in Dubrava brechend voll: zahlreiche albanische Häftlinge aus Zentralserbien wurden dorthin versetzt, zudem mehrere Dutzend für Schwerverbrechen verurteilte Insassen serbischer und montenegrinischer Angehörigkeit hauptsächlich aus dem Gefängnis in Požarevac, wie auch viele inzwischen verhaftete Kosovo-Albaner, die in Dubrava ihre Gerichtsverfahren wegen „Gefährdung der Verfassungsordnung“ abwarteten. Laut Angaben des damaligen Justizministeriums waren zu der Zeit 1.004 Häftlinge in der Strafvollzugsanstalt Istok untergebracht, über 90 Prozent von ihnen Albaner.

Den ersten Angriff aus Dubrava führten die NATO-Flieger am frühen Nachmittag des 19. Mai 1999 aus, wobei die Staatsnachrichtenagentur Tanjug von mindesten zwei Toten berichtete. Der zweite Angriff erfolgte am Morgen des 21. Mai, als nach offiziellen Angaben mindestens 19 Insassen ums Leben kamen und mehrere Dutzend leicht oder schwer verletzt wurden. Bei der Gelegenheit kam auch der stellvertretende Gefängnisleiter ums Leben. Am selben Tag trafen Ermittler des Gerichts in Peć, gefolgt von Presseteams, im Gefängnis ein, der Besuch wurde jedoch von neuen Luftangriff-Sirenen verhindert. Einige Tage später wird in der offiziellen Mitteilung der Staatsspitze angeführt, in Dubrava seien um die 100 Insassen ums Leben gekommen, während etwa weitere 200 verletzt seien und eine Evakuierung des Gefängnisses im Gange sei. Der Untersuchungsrichter aus Peć werde zudem erklären, das Gefängnis sei „dem Erdboden gleich“ gemacht und aus den Trümmern 86 Leichen geborgen worden, die gemäß gesetzlich vorgesehener Prozedur identifiziert, forensisch behandelt (Fingerabdrücke, äußere Untersuchung, Lichtbildaufnahmen) und sodann auf dem muslimischen Friedhof in Istok beigesetzt wurden. Ebenfalls mitgeteilt wurde, dass 196 verletzte Insassen in den umliegenden Krankenhäusern untergebracht wurden, während eine unbestimmte Anzahl auf der Flucht sei. Bis Ende der Woche bleibt die offizielle Opferzahl aus Dubrava bei 93. Alle Opfer wurden der NATO zur Last gelegt.

Unabhängige Quellen äußerten bereits in jenen Tagen Zweifel an der offiziellen Version der Ereignisse, für Untersuchungen wird jedoch erst nach Abzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo Zeit sein, als ein spanisches Forensikteam auf den Friedhof im umliegenden Dorf Rakoš die Leichen von 97 Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren exhumierte, die als „unbekannt“ mit Kennzeichen der Strafvollzugsanstalt begraben wurden. Die geschätzte Zahl der Luftangriffsopfer im Vergleich zur Gesamtzahl der geborgenen Opfer wurde dabei halbiert. Bei mindestens 50 Personen wurden Schusswunden von Handfeuerwaffen festgestellt.

Die Namen einiger der Opfer aus Dubrava tauchen erstmals in der umfangreichen Anklageschrift des internationalen Tribunals in Den Haag gegen Slobodan Milošević auf, im Teil betreffend Kriegsverbrechen im Kosovo. Die Staatsanwaltschaft behauptete, die serbischen Truppen hätten den Häftlingen am 22. Mai 1999 angeordnet, sich wegen einer organisierten Evakuierung ins Gefängnis in Niš mit ihren persönlichen Sachen im Hof aufzureihen, woraufhin sie aus automatischen Gewehren auf sie schossen. Am nächsten Tag, so die Anklageschrift, seien mit Bomben und Schüssen diejenigen Insassen getötet worden, die die erste Hinrichtung überlebten und sich in Schächten und Kellern der Gefängnisanlage zu verstecken versuchten. Bei der Beweisführung wurden zwei überlebende Insassen verhört, wie auch eine BBC-Reporterin aus einer Gruppe von Journalisten, die auf Einladung der Leitung das Gefängnis unmittelbar nach dem zweiten Luftangriff besuchen konnte.

Der Mord an mindestens 50 Häftlingen in Dubrava, wie die Zahl damals geschätzt wurde, wird auch in der Anklageschrift gegen die „Kosovo-Gruppe“ angeführt, welche anfangs von den Generälen Nebojša Pavković, Vladimir Lazarević, Sreten Lukić und Vlastimir Đorđević bestand, während später auch die Politiker Milan Milutinović und Nikola Šainović hinzukamen. In einer späteren Revision sollte das Verbrechen in Dubrava „aus Gründen der Effizienz“ aus der Anklage gegen die sechs ausgenommen werden. Man ging davon aus, dass die nationale Staatsanwaltschaft Interesse genug daran habe werde, den Fall zu übernehmen und die Zeugenaussagen, welche auf ein gemeinsames Verbrechen unterschiedlicher Akteure auf ganzer Kommandolinie der Justiz und Polizei hinwiesen, zu prüfen.

Es zeigte sich, dass doch nicht hinreichend Interesse an Dubrava bestand und dass das öffentliche Vergessen der Verbrechen erst 2010 gestört sein wird, als der Fonds für humanitäres Recht bei der Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrachen Anzeige gegen 34 Verantwortliche für den Mord an über 90 und Körperverletzung von über 150 albanischen Häftlingen am 22. und 23. Mai 1999 erstattete.

Erstattet wurde die Anzeige gegen den damaligen Justizminister der serbischen Regierung Dragoljub Janković, seinen Stellvertreter Zoran Stevanović und den Assistenten des Innenministers General Obrad Stevanović, wie auch gegen mehrere mit Namen genannte Polizeihauptmänner und unbekannte Beamte der Kosovo-Polizei, Mitarbeiter der Gefängnisverwaltung und Wächter aus Dubrava. Der Fonds forderte eine Ermittlung wegen begründeten Verdachts, sie hätten die Tötung unbewaffneter albanischer Häftlinge geplant, organisiert, angeordnet und an ihr teilgenommen, wie auch Spuren des Verbrechens beseitig und die unmittelbaren Täter geschützt.

In den nächsten Jahren war eine „Vorermittlung“ im Gange, bei welcher unter anderem festgestellt wurde, es habe einen Befehl über eine plötzliche Überführung serbischer Häftlinge nach Dubrava gegeben, sodass der ehemalige Justizminister, in dessen Zuständigkeit solche Entscheidungen fallen, verhört wurde, jedoch als Zivilbürger; es wurde ebenfalls darüber spekuliert, die Staatsanwaltschaft sei zu einem potentiell kooperativen Zeugen aus der oberen befehlshabenden Struktur gekommen, der weitere Details über das Verbrechen mitteilen könnte.

Inzwischen stellte sich heraus, dass die Anzeige des Fonds für humanitäres Recht nicht die erste ist, die im Zusammenhang mit der Hinrichtung der Häftlinge aus Dubrava bei der Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen eingelangt ist. Ein Schreiben mit der bizarren Überschrift „Strafanzeige wegen Kriegsverbrechen und Raub unserer Gehälter“,  datiert mit dem 29. Juli 2008, ging an den Präsidenten und die serbische Regierung, Staatsanwaltschaft und den Ombudsmann: Es bezieht sich auf zwei Berater des Justizministers, den Gefängnisleiter aus Dubrava und den Leiter des Sicherheitsdienstes. In dieser Anzeige werden erstmals die Bewaffnung serbischer Häftlinge und ihre Beteiligung am Verbrechen erwähnt.

Wie „Peščanik“ inoffiziell in Erfahrung bringt, belegte die bisherige Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft, dass Insassen serbischer Angehörigkeit aus Hochsicherheitsgefängnissen in Belgrad, Požarevac und Niš gemäß angeblicher Anordnung des damaligen Justizministers überführt wurden. In Dubrava genossen sie Sonderprivilegien: Unter anderem konnten sie die dienstlichen Funkgeräte und Dienstfahrzeuge in und außerhalb der Gefängnisanlage nutzen. Mit Beginn der Luftangriffe wurden ihnen Waffen besorgt – sie wurde mit „automatischen und halbautomatischen Waffen, Skorpionen[1] , Pistolen, Munition, Granatwaffen, Handgranaten…“ ausgerüstet. Nach getaner Arbeit, als sie nach Zentralserbien rücküberführt wurden, habe sie Waffen und sonstige Ausrüstung der Gefängnisverwaltung übergeben – samt Protokoll.

Die Erkenntnisse im Laufe der Ermittlung weisen darauf hin, dass in der Morgendämmerung des 22. Mai 1999 das Gefängnis Dubrava praktisch unter Kontrolle der Polizeisondereinheiten gestellt wurde und die Beamten nach Absprache mit der Gefängnisverwaltung in der Gefängnisanlage verteilt wurden. Durch die Anlage geführt wurde sie von bewaffneten serbischen Häftlingen. Einer von ihnen rief die albanischen Insassen per Lautsprecher auf, sich im Hof zu versammeln, „um dann von den Wachtürmen im inneren, abgeschotteten Teil der Anlage aus Granatenwerfern und Feuerwaffen auf sie zu schießen und sie mit Handgranaten zu bewerfen, wobei etwa 80 Menschen getötet und verletzt wurden“.

Danach wird angegeben, dass am folgenden Tag „verurteilte Sträflinge serbischer und montenegrinischer Angehörigkeit… von den Wachtürmen und der Außenmauer aus aus Granaten- und Schusswaffen gefeuert und Handgranaten in den geschlossenen Teil der Strafvollzugsanstalt, wo sich damals Häftlinge albanischer Angehörigkeit befanden, geworfen haben; sie gingen in den geschlossenen Teil des Strafvollzugsanstalt und bewarfen die albanischen Insassen in den Schächten mit Handgranaten“, wobei etwa 80 bis 100 Insassen ums Leben kamen.

In den inoffiziellen Ermittlungsresultaten, zu denen „Peščanik“ gekommen ist, heißt es ebenfalls, ein serbischer Insasse, bekannt als „Zenica“, habe die Überlebenden „zur Strecke gebracht“, indem er ihnen den Kopf einklemmte und das Genick brach oder sie aus Feuerwaffen erschoss. 

Für „die Assanierung des Geländes“ d.i. den Transport der Leichen im anfänglichen Verwesungszustand zum Friedhof im Dorf Rakoš wurden der Routine nach die im Kommunalunternehmen im Istok angestellten Roma engagiert. Auf dem muslimischen Friedhof wurden – „gemäß Regelungen“ – 97 Leichen bestattet.

Es gibt jedoch auch Angaben, laut welchen der Belgrader Insasse „Limun“, bewaffnet und mit Skihaube, eine Gruppe serbischer Häftlinge anführte, die mit mit dem Transport der Leichen zu einem Massengrab unbekannten Standorts am Fuß des Bergs Mokra Gora, etwa zwanzig Kilometer von Dubrava, beauftragt war. „Das Massengrab wurde zickzack mit einem Bagger ausgehoben und, nachdem es zugeschüttet war, mit Laub und Ästen bedeckt.“

Bis heute steht die genaue Zahl der Getöteten aus dem Gefängnis, das zur Zeit der Luftangriffe einer gemischten serbischen Gruppe aus Polizeibeamten und Kriminellen zum Kommando übergeben wurde, nicht fest. Es wird angenommen, dass höchstens zwanzig Menschen bei den zwei Angriffen der NATO-Flieger ums Leben kamen oder später im Krankenhaus oder während der Evakuierung in Folge ihrer Verletzungen erlagen; wahrscheinlich wurden einige Insassen auch bei Fluchtversuchen unmittelbar nach den Luftangriffen, als die Außenmauer durchbrochen wurde, getötet. Die Mehrheit der 97 im Dorf Rakoš Exhumierten wurde in der Gefängnisanlage hingerichtet. Laut inoffizieller Rechnung fehlen von den endgültigen Listen der Toten und Überlebenden aus Dubrava noch etwa 120 Menschen.

 
Übersetzt aus dem Serbischen von Jelena Pržulj

Peščanik.net, 08.01.2014.

Milica Jovanović – State crime in Dubrava prison

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  1. Maschinenpistole tschechischer Herstellung, Anm. d. Ü.