Es ist schon eine seltsame Spracherfahrung, jeden morgen beim Frühstück zuerst meine Frankfurter Tageszeitung zu lesen und dann den serbischen Pressespiegel. Nicht, weil mir die eine auf deutsch und der andere in Englisch auf den Tisch kommt, sondern weil ich da zwei so vollständig verschiedene Formen öffentlicher Sprache und politischen Redens lese, dass beide nicht vom gleichen Planeten zu stammen scheinen. Die serbischen Medien scheinen – so vermittelt es der Pressespiegel – fast ausschließlich zu berichten, was Politiker darüber sagen, wie es sich mit der Welt und den Dingen verhält. Die deutsche Zeitung will zuallererst davon berichten, wie es sich mit der Welt und den Dingen verhält. Erst danach kann von Interesse sein, was bestimmte politische Personen darüber denken und sagen.

Meine Entscheidung, welche Zeitung ich täglich in Deutschland lese, ist die Entscheidung, welcher Blick auf die Welt und die Dinge mir der beste und weiteste zu sein scheint. In Serbien bedeutet es offensichtlich eher eine Entscheidung, von welchem politischen Matador ich die Kommentare über dieses und jenes (und vor allem immer: über die anderen!) lesen will. Und die Kommentare sind selten neu, originell und interessant. Sie machen uns selten klüger als zuvor. Sie geben uns nur das Gefühl, dass wieder mal einer gesagt hat, was wir schon immer wussten.

Deshalb kann ich das, was im serbischen Pressespiegel steht, immer nur zur Kenntnis nehmen. Es fordert nicht heraus zu einer Auseinandersetzung, außer in den seltenen Fällen, wenn eine Kolumne von Vesna Pesic oder der Kommentar eines klugen Menschen von Danas, Politika oder Vreme in längeren Auszügen dort abgedruckt wird.

Erst am Abend, wenn ich neue Texte auf Pescanik lese, stoße ich auf eine Sprache, die von Serbien und vom Rest der Welt auf eine Weise spricht, die mir mehr erlaubt, als mich nur in der Reihe der Gefolgsleute eines politischen Alphatieres hinten anzustellen.

Es ist ein interessantes Phänomen, diese Sprache im öffentlichen Raum. Vor Jahren untersuchte ein Team von Soziolog/innen in Bulgarien die Erscheinungsform von Werbung in Sofia und anderen Städten, und sie fanden heraus, dass Werbetexte, die auf in großen Buchstaben auf den Dächern hoher Häuser installiert sind, praktisch immer in Latinica geschrieben sind. Es sind die Brand-Names des globalen Kapitalismus. Je weiter die Werbung nach unten wandert, um so kleiner wird sie; und je kleiner sie wird, um so mehr wird sie landessprachlich und kyrillisch.

In all den Wochen des ukrainischen Aufbegehrens haben uns die deutschen Medien hier erzählt, dass der Majdan „nach Europa“ will und gegen den Teil der ukrainischen Gesellschaft und Politik kämpft, der die Bruderschaft mit Russland bevorzugt. Aber das kann ja nicht wirklich stimmen, schon deswegen nicht, weil Russland noch selten ein Bruder war, meist aber ein Vater oder – im besten Fall – ein „Väterchen“. Und das wissen die Ukrainer sehr gut.

Aber auch deswegen scheint da ein Missverständnis zu sein, weil in diesen Teilen unseres Kontinents ja praktisch alles in einer „Euro“-Version vorkommen kann: so gibt es „Euro-Friseure“ zuhauf und „Euro-Möbel“, es gibt „Euro-Gas“ ebenso wie „Euro-Benzin“, „Euro-Versicherungen“ oder „Euro-Autoersatzteile“. Sogar ein Steinmetz auf dem Zlanacki Put in Belgrad, kurz vor dem Lešće Friedhof, verspricht im Firmenschild, dass seine Grabsteine aus „Euro-Granit“ gehauen seien. Und ein albanischer Kollege von ihm im Kosovo hat den Gehsteig vor seinem Geschäft in eine Friedhofszeile mit fünf Mustergräbern verwandelt und sie allesamt zu „Euro-Gräbern“ deklariert.

Was die Ukrainer auf dem Majdan meinten, wenn sie „Europa“ sagten, war etwas ganz anderes als dieser Staatenbund im Westen von ihnen, der ihnen auch bis heute keine realistische Perspektive auf Mitgliedschaft eröffnet hat. Sie benutzen „Euro“ schlicht als ein omnivalentes linguistisches Präfix, mit dem sich alles und jedes verbinden lässt, wenn ihm eine besondere und bisher in diesen Regionen unbekannte Qualität zugesprochen werden soll. Deshalb wird beim „Euro-Friseur“ das Handtuch nach der Haarwäsche nicht mehr über den Radiator gehängt um – zwar getrocknet, aber ungewaschen – beim übernächsten Kunden wieder verwendet zu werden, wie es schon immer alter Brauch gewesen ist.

Wenn die Ukrainer also in einem politischen Kontext „Euro“ sagen, dann meinen sie eine Politik, die sich in jedem Aspekt – und vor allem in radikaler Weise – von dem unterscheidet, was man ihnen als politische, gesellschaftliche und alltägliche Wirklichkeit seit Jahrzehnten aufgezwungen hat. Warum kann es, wenn es Euro-Friseure gibt, nicht auch Euro-Minister geben? Solche, die mit sauberen Handtüchern arbeiten und nicht der schleichenden Verbreitung von Kopfkrankheiten den Boden bereiten? Solche, die nicht…

Ach, wie käme ich dazu, das was Minister nicht sollen, für Pescanik und serbische Leser aufzuschreiben, wo die doch sowieso weitaus besser und aus täglicher Erfahrung wissen, was Minister nicht sollen!

Aber wovon reden die amtierenden Minister? Davon, dass so etwas wie in der Ukraine ganz unmöglich auch in Serbien geschehen könnte. Sie reden von dem, was geschieht, um nicht von dem zu reden, worum es geht. Mag ihnen das Geschehen in Kiev oder Lviv noch so ferne erscheinen, das Anliegen und die Ziele der Menschen auf dem Majdan könnten sehr schnell auch in Serbien um sich greifen. Immerhin sagen viele Ukrainer, dass auch sie selbst einen solchen Aufstand noch im vergangen Oktober für vollständig ausgeschlossen hielten, so müde waren sie alle, so bis ins Letzte ausgelaugt war das ganze öffentliche Leben.

Was also hat sie doch wieder auf die Straße gebracht? Zur Freude von Herrn Kostunica sei gesagt: Nein, es war nicht Europa! Zumindest nicht das politische. Aber das linguistische Europa spielte eine zentrale Rolle dabei: es wirkte als ein universeller semantischer Platzhalter für die radikale und diesmal endgültige Ablehnung von allem Alten zugunsten eines wirklichen Neuanfangs. So neu, dass die Umgangssprache darauf noch gar nicht vorbereitet ist. So fremd noch, dass kaum die Wörter dafür zur Verfügung standen. „Euro“ bezeichnet in der Majdansprache alles, was radikal anders ist als das immer schon Vorhandene. Mir „Euro“ konnte das bisher Unsagbare dennoch gesagt werden.

Die Weigerung Präsident Janukowitschs, jenes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben und statt dessen die Assoziierung mit Russland zu suchen, war für die Ukrainer nicht primär ein Akt gegen die Europäische Union als politisches Gebilde. Es war vielmehr der letzte autoritäre Ausdruck für den Beharrungswillen von allem Alten. Hier entschied ein immer noch regierender Homo Sovieticus, der sich längst auf geschickte Weise hinter der Maske eines Post-Sovieticus verstecken will. Aber das post-Alte ist nicht per se das Neue! Noch einmal wollte in der Ukraine eine korrupte, post-sowjetische Elite ihre Macht behaupten. Und wäre es ihr gelungen, hätte sie noch einmal, und für die nächsten 20 Jahre, sich als die bestimmende Kraft über das Leben der Menschen einzementiert.

Mit dem Ende des Kommunismus schien für manche in der westlichen Welt das „Ende der Geschichte“ überhaupt gekommen. Aber mit diesem Ende ist in das Leben der Menschen in der Ukraine so etwas wie Geschichte überhaupt erst wieder zurückgekehrt. Sie kam als die Ahnung von der Möglichkeit des Neuen. Und sie kam am drängendsten Form durch die Erkenntnis, dass sie alle nur ein Leben haben – eines, das selbst für ihre bescheidensten Träume zu kurz sein könnte. Ein Leben, das definitiv zu kurz sein wird, wenn das Alte noch länger fortdauert. Deshalb ging es für sie in diesem Konflikt um Alles oder Nichts.

Das hatte sich – nach 20 Jahren verschleppter Öffnung, Demokratisierung, Erholung… – in einer Mehrheit der Gesellschaft als Erkenntnis durchgesetzt: dass all dieses Alte nichts anderes ist als ein einziger gigantischer Schrotthaufen von Institutionen und Strukturen und sich darin suhlenden Akteuren aus einer alten, angeblichen „Elite“. Jahrzehnte lang hat diese „Elite“ Millionen Tonnen Papiers und Druckerschwärze verwendet, um im Namen einer fiktiven Solidarität die Ausbeutung im Kapitalismus zu denunzieren. Und just dieselben Denunzianten glaubten im Augenblick des Zusammenbruchs, als die ganze Fiktion und die Absurdität ihrer solidarischen Appelle offenbar wurde, sich nun ermächtigt, endlich das genau zu tun, was sie Jahrzehnte lang als „kapitalistisch“ denunziert hatten: mögen sie nun ihre Bankkonten auf den Cayman-Islands hüten!

Überall dort, wo der vom Zusammenbruch des Kommunismus versprochene „Change“ nicht um 20 Jahre verschleppt wurde, wo sich nicht zwei Jahrzehnte lang eine „Demokratisierung“ nach den anderen sich als ein infamer Betrug der Regierenden herausstellte, überall dort war im entscheidenden revolutionären Moment ein „Runder Tisch“ zusammen gekommen. Es brauchte diesen Runden Tisch als Institution, weil das tatsächlich Alte und das wirklich Neue sich auf die Modalitäten der Übergabe der Macht verständigen mußten.

Aber der Runde Tisch hatte wesentliche Voraussetzungen. Die waren in der Ukraine nicht gegeben, und deswegen musste der Kampf auf der Straße gekämpft werden. Die erste Voraussetzung war, dass die alte Elite und ihre Natschalniki das unabwendbare Ende ihrer Zeit mit eigenen Augen vor sich sahen und nicht mehr an eine Möglichkeit glauben konnten, es aufhalten. Der Runde Tisch konnte ihnen daher unter Umständen Freiheit von Strafverfolgung zusagen, er konnte ihnen eventuell auch zusagen, dass ihre Pensionsansprüche anerkannt würden. Aber er musste – das war die zweite Voraussetzung – auf der unverzichtbaren Forderung beharren, dass alle diese Alten sich endgültig und vollständig aus allen öffentlichen Sphären in ihre Vikendizas zurückziehen, wo es ihnen unbenommen sei, Kaninchen zu züchten oder ihre Memoiren zu schreiben.

Die Kürze unserer Zeit, dieses eine Leben, das wir für unsere Träume haben, macht es, dass wir keine Geduld mehr haben können, nicht weiter mehr warten können, bis sie von alleine gehen. Sie werden nicht von alleine gehen – und deshalb brauchen wir Politik, demokratische Politik.

Im „Osten“, wenn mir diese Bezeichnung für einen Moment gestattet ist, war es Jahrzehnte lang en vogue, den Kapitalismus zu denunzieren, wie – vice versa – im Westen. Ist es nicht interessant bei näherem Hinsehen festzustellen, dass gerade die übelsten Nutznießer und Claqueure des neuen, postkommunistischen Turbo-Kapitalismus aus den Reihen seiner vormaligen Denunzianten stammen? Hatten nicht der heutige heldenhafte serbische Ritter im Kampf für politische Reinheit und der heutige Milliardärs-Kapitalist zu gleicher Zeit hohe politische Funktionen in der gleichen alten Elite? Und saß nicht – Kapitalismus hin, Sozialismus her – auch ein heutiger Spitzensozialist am gleichen Tisch mit ihnen?

Meine Frankfurter Zeitung schreibt – leidenschaftslos pragmatisch, wie Wirtschaftsjournalisten nun einmal sind – dass eine siegreiche ukrainische Opposition, wenn sie an der Regierung wäre, erst einmal eine Menge von Entscheidungen zu treffen hätte, die „für die Bevölkerung sehr schmerzlich wären“.

Was also jetzt tun, nachdem sie an der Regierung sind? Denken die EU-Europäer daran, ihnen eine Liste von schmerzhaften Maßnahmen zu schicken? Und vielleicht noch ein paar Consultants von Deloitte-Touche? Aber letztere sind sowieso schon da, in der Zhilyanskaya ulitsa von Kyiv, ganz so wie auf Terazije in Belgrad. Ganz so wie der Hase vor dem Igel immer schon da war. Sie arbeiten ideologiefrei und wertneutral. Es interessieren sie nur Werte, die „geschöpft“ werden können. Und vom „Schöpfen“ zum „Abschöpfen“ ist es kein weiter Weg.

Und ist es nicht ebenso interessant, dass ein großer Teil der politischen Elite im Westen Jahrzehnte lang seine politische Suppe auf der Flamme des Mitleids mit den Brüdern und Schwestern im Osten kochen konnte, die unter dem Joch des Kommunismus zu leiden hatten? Und wie viele aus dieser alten westlichen Elite präsentieren sich uns heute als sogenannte „Euro-Kritiker“ und wollen die Grenzen dichtmachen, wenn Bulgaren, Rumänen und Serben mit „Euro-Tours“ (sic!) über die Autobahn kommen nach Düsseldorf – und demnächst auch noch Ukrainer? Sind die jetzt keine Brüder und Schwestern mehr? Und wenn nicht, was hat sie denn in den euro-kritischen Augen in 20 Jahren so anders gemacht? Was war das doch für eine billige und inhaltsleere Brüderschaft, in der ein eiserner Vorhang 50 Jahre lang die Brüder und Schwestern davon abhielt, sie einzufordern, uns zu besuchen und nach einem Abendessen und einem Schlafplatz zu fragen!

Eigentlich fühlen sich alle, die da heute an der Autobusna Stanica stehen und auf die große Fahrt warten, immer noch bis zum Hals in dem gleichen Schlamassel, den sie schon von ihren Vätern und Müttern kannten. Und es kann ihnen völlig egal sein, was die korrekte ideologische Bezeichnung für den Grund ihres Schlamassels ist. Klar scheint nur: seit der Kommunismus in der Wahrnehmung des Westens nur noch ein Schlamassel ist, kann man hier auch keine politische Ciorba mehr auf ihm kochen. Antikommunismus ist mega-out! Eurokritik ist cool!

 
Autor ist Direktor der CEEOL (Central and Eastern European Online Library).

Peščanik.net, 08.03.2014.