Montag, 3. März

 
Von Rudolf Augstein, dem Gründer des deutschen Magazins „Der Spiegel“, stammt der schöne Satz, es sei ein Wunder, das jeden Tag exakt so viele Dinge geschehen, wie in eine Zeitung passen. Für Serbien müsste dieser Spruch ein wenig abgewandelt werden. In Serbien, so scheint es, ist es ein Wunder, dass die Zeitungen jeden Tag von exakt so viele Widersprüchen berichten, wie von einem einzigen menschlichen Gehirn an einem Tag aufgenommen und ertragen werden kann.

Fangen wir mit dem (aus Sicht der Europäischen Union) schönsten an: mit Ivica Dacics Aussage, dass er für die Mitgliedschaft Serbiens in der Europäischen Union kämpfe und nicht für eine in der Arabischen Liga, weil es ja dort keine Arbeiterrechte gebe. So schönes ist seit langem nicht mehr über die Europäische Union aus einem „sozialistischen“ Mund gesagt worden, und insbesondere die Genossen bei der deutschen Linken werden sich die Augen reiben, wenn sie es lesen: die immer wieder des Neo-Liberalismus bezichtigte Europäische Union als ein Hort für die Rechte der Arbeiter! Hat Dacic, während sein FDPM Vucic mit Max Weber beschäftigt war, zufällig Ralf Dahrendorffs Buch über „Das sozialdemokratische Jahrhundert“ gelesen?

Wo aber war der Hüter der Arbeiterrechte in all den Privatisierungsprozessen serbischer Firmen? Glaubte er etwa, es sei genug für den Schutz der Arbeiterrechte, immer einen oder, wenn möglich, zwei Sozialisten in den neuen Vorstand eines Unternehmens zu plazieren? Ist der Sozialismus dieser Vorstands-Sozis jemals mehr als eine deklaratorische Maske gewesen? Ist dahinter irgend je etwas wie eine substantielle Haltung gewesen, die das Attribut „sozialistisch“ verdienen würde?

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Bleiben wir zunächst beim Premierminister und kommen am gleichen Montag zu seiner Aussage, dass er glücklicher wäre, Hashim Thaci zu verhaften als mit ihm zu verhandeln, wenn es aus Gründen des Staatsinteresses nicht notwendig wäre, zu verhandeln. Aber: setzt das Verhaften nicht auch ein Staatsinteresse voraus? Oder läuft der Privatmann Dacic durch die Staatenwelt mit einer Liste derer im Kopf, die er privat ganz gerne hinter Gittern sehen würde, weil es ihn glücklicher machen würde? Das hätte er gewiss mit vielen anderen Privatpersonen in Serbien gemeinsam. Eine solche Liste hat wohl jeder im Kopf, sie unterscheiden sich nur in den darauf stehenden Namen – und vielleicht in der Länge.

Nur, wie machen das diese Politiker, wenn sie sich das nächste Mal zum Brüsseler Plausch über Staatsinteressen treffen? Wird Hashim dem Ivica zum Spaß und mit ironischem Lächeln beim Kaffee die Arme hinstrecken, so als wartete er auf die Handschellen? Wird der gute Ivica ihm dann ebenso lächelnd auf die Schultern klopfen und sagen, dass das eben mal so gesagt werden musste im serbischen Wahlkampf, damit die schlichten, patriotischen Gemüter zu Hause zufrieden sind? Alles nicht so gemeint! Wir sind doch beide Politiker, wir wissen doch, wie’s geht mit dem dummen Volk! Schwamm drüber!

Oder sitzen sie sich mit steinernen Gesichtern gegenüber – wohl wissend, wie der gute Ivica schon nach ihrem ersten Treffen in Brüssel verlauten ließ, dass einer von ihnen auf der Strecke geblieben wäre, wenn sie sich 15 oder 20 Jahre früher getroffen hätten? Und glauben sie ernsthaft, in einer solchen Haltung die Interessen, Nöte und Bedürfnisse von Menschen verhandeln zu können? Ist es vielleicht das, was sie unter Politik verstehen? Kann aus solcher Politik je Gutes für die auf der einen Seite entstehen, das nicht automatisch zum Schlechten für die auf der anderen Seite gereicht? Und wenn dies das Muster der Politik ist, sollte es wirklich nur in der Außenpolitik wirksam sein? Warum nach innen anderen Regeln folgen als nach außen?

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Die Vorgänge in Valjevo bedürfen einer bloßen Erwähnung, um ihre Absurdität oder jedenfalls die Abwesenheit jeglicher politischen Logik zu verdeutlichen: jetzt will eine Koalition aus SPS, DSS, LDP und einigen anderen die Stadt regieren. Was soll sie zusammenhalten außer der vollkommenen Beliebigkeit jeder politischen Überzeugung? Die Antwort steht im nächsten Satz, wo RTS vermeldet, dass alle SNS-Direktoren städtischer Unternehmen gegen SPS-Direktoren vertauscht werden. Da sind sie wieder, die Bewahrer unserer Arbeiter-Rechte, die Kämpfer für Gerechtigkeit und was der Katalog der Phrasen sonst noch anbietet!

Das wird nicht wirklich nennenswert schlimmer dadurch, dass wir am immer noch gleichen Montag auch lesen, wie Aleksander Vulin in Obrenovac eine Gedenktafel für Sloba aufhängen will. Warum nur will er die liebe Mira, mit der er doch einst so eng zusammengearbeitet hat, nicht auch auf die Tafel schreiben? Nein, jetzt will auch der kleine Aleksandar Vulin mit dem mächtigen Aleksandar Vucic gehen und nicht mehr mit dem Ivica zusammen die sozialistische (Inter)Nationale singen. Da ist es angesagt, zu einem ganz alten Thema zu greifen: denn nichts hat je Sozialisten so sehr beschäftigt wie die militante Frage, wer unter ihnen der wirklich wahre Sozialist sei. Darüber konnte bisweilen sogar die Revolution in Vergessenheit geraten. Jetzt wollen also die „bewegten“ Sozialisten Serbiens denen, die keine Bewegung mehr sind, ihren Führer und Parteigründer in ehrendem Gedenken wegnehmen. Kein Wunder, dass die unbewegten Sozialisten das „absurd“ finden. Und – umgekehrt – weil die es absurd finden, scheint die Idee einer Gedenktafel zu Ehren von Slobo plötzlich sogar denen von der Obrenovacer SNS ganz sympathisch! Oh tempora, oh mores![1]

Und allen übrigen fällt nichts Besseres ein, als im Gegenzug wieder Zoran Djindjic aus der Versenkung zu holen, in der sie selbst ihn jeden Tag unterm Deckel zu halten versuchen. War er doch offensichtlich einer der ganz wenigen in dieser absurden Heerschar der letzten 20 Jahre, der einen politischen Gedanken von mehr als einer Stunde Gültigkeit zu denken vermochte. Freilich, all die, deren Gedanken sowieso in einem Tag ins Nichts zerfallen, braucht man auch nicht aus dem Weg zu räumen. Hat nicht einst Djilas (der andere Djilas!) ein Buch über „Die herrschende Klasse“ geschrieben? Könnte man nicht wenigstens das zur Pflichtlektüre in serbischen Schulen machen?

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Immer noch gleichen Tags erfahren wir von CESID in Belgrad, dass es unter allen entscheidenden Figuren dieser herrschenden Klasse der Belgrader Carsija derzeit nur einen einzigen gibt (den FDPM), von dem nicht die große Mehrheit der Bevölkerung eine negative Meinung hat. Wie sind sie dann zur Macht gekommen, wenn so viele so schlecht von ihnen denken? Und warum sind sie dort immer noch? Es kann doch nur so sein, weil sie entweder vom Himmel gefallen sind oder von unsichtbaren bösen Mächten zur Herrschaft über dieses gepeinigte Land eingesetzt wurden. Oder es ist so, weil die serbische Gesellschaft in sich so zersplittert ist, dass schon ein paar Prozent von Anhängern reichen, um in dieser Carsija lauthals mitzureden. Wenn man aber mal drinnen ist in dieser Melange, dann kann es nur noch darum gehen, auch drinnen zu bleiben. Siehe Valjevo. Siehe Obrenovac.

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In den 60er Jahren hatte ich einen in Ostpreußen aufgewachsenen Lehrer in Geschichte. Er pflegte Bismarcks Worte zum Aufbau einer großen deutschen Hochseeflotte zu zitieren: „Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser“, und dann hängte er seine eigene bissige Bemerkung hintenan: „Aber sie lag im Wasser!“ Daran muss ich jedesmal denken, wenn ich von „Belgrad am Wasser“ lese – so auch an diesem Montag. Wenn der PM nicht in die Arabische Liga will (wegen der Arbeiterrechte!), Arabien aber mit Hilfe des FDPM nach Sava Mala will, und wenn der FDPM sagt, dass Serbien mit 1,8 km aufgemotztem Save-Ufer zum „größten touristischen Anziehungspunkt der Region“ würde, dann sollte man das ganze Projekt doch gleich „Jadranske Save“ nennen. Und wenn der FDPM vom 20.000 Menschen spricht, die einen großen Turm am Saveufer bauen werden, dann kann die Gegenfrage mit Berthold Brecht doch nur heißen: „Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war, die Maurer?

Von der Pressekonferenz des FDPM in den Emiraten wird berichtet, dass eine Firma namens „Eagle Hills“ das ganze Projekt eines Belgrade-Towers und der Shopping Mall realisieren soll. Ist es dem FDPM aufgefallen, dass es in der gesamten Google-Welt unter dem Namen „Eagle Hills“ nur einige Golfplätze und eine in Canada nach Gold schürfende Explorationsfirma gibt? Drei Milliarden Dollar sollen (angeblich: wollen) die Arabischen Emirate investieren. Noch einmal möchte man Brecht den FDPM fragen lassen:

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

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In einem solchen Reigen der Widersprüche, wie sollte da Herr Dodik von jenseits der Grenze, die eigentlich keine sein sollte, schweigen? Er stimmt ein in den Montag mit seinem Text von der „vergeblichen Wiederbelebung des Leichnams Bosnien-Herzegowina“ durch die International Community – ein Text, der so alt und verwest daher kommt wie die angebliche Leiche selbst, von der er spricht. Die International Community steckt mit ihren Hunderten von Millionen Dollar hinter allem, ob in „Lybien, Algerien, Syrien, Tunesien und jüngst auch in der Ukraine“ – und selbstverständlich in BiH. Möchte uns Herr Dodik vielleicht sagen, welche Ereignisse in Algerien er meint? Oder ist ihm das einfach so herausgerutscht bei der Aufzählung der nordafrikanischen Länder, obwohl sich dort, in Algerien, gar keine internationale verschwörerische Revolution ereignet hat? Rutscht ihm nicht eigentlich immer alles einfach so heraus? Langweilt er sich nicht langsam an sich selbst und seinem immer gleichen Sermon?

Eigentlich sollten Verschwörungstheoretiker wie er sich um so mehr um Plausibilität bemühen, je abstruser ihre Theorien klingen. Aber nicht so Herr Dodik! Was um Himmels willen sollte die Internationale Gemeinschaft zu einer verschwörerischen Politik in Bosnien und Herzegowina antreiben? Im Gegenteil: es stehen unzählige Bewohner jener Staaten der internationalen Gemeinschaft dem schon erwähnten Bismarck und seiner These sehr nahe, dass man auf dem Balkan absolut kein Interesse habe, das es wert wäre, auch „nur die Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers“ dafür zu opfern.

Wofür um alles in der Welt soll eine International Community eine bosnisch-herzegowinische Verschwörung aushecken. Sie könnte – im Gegenteil – dieses Land morgen vergessen. Selbst der Kapitalismus kann gut ohne dieses Land leben. Sowieso müssen alle, die dort leben, entweder deutsche oder französische oder japanische Autos kaufen. (Herr Dodik mag weiterhin einen Lada fahren!) Was sollen sie sonst machen? Selbst welche bauen? Und genauso mit Druckmaschinen, Bohrmaschinen, Computern… all das verkauft ihnen nur die internationale Gemeinschaft. Dazu muss sie das Land nicht besetzen, nicht unterdrücken, dazu muss sie nicht mal den Herrn Dodik ärgern, weil auch dessen Computer, so er einen benutzen kann, aus irgendeinem Land der International Community stammt. – Aber Halt! Da ist doch ein Interesse – eines, das Bismarck so nicht kannte. Und es ist ein essentielles Interesse der Europäischen Union: nämlich dass nicht demnächst wieder 100.000 Flüchtlinge über irgendwelche schwedischen, österreichischen, deutschen, italienischen Grenzen kommen. Und seien es „nur“ so genannte „Wirtschaftsflüchtlinge“. Und dass wir nicht moderne Musketiere auf dem Balkan stationieren und sie dafür teuer bezahlen müssen.

Niemand verlangt von Herrn Dodik, zu glauben, dass die westliche Politik von erhabenen moralischen Zielen angetrieben sei. Nein, das verlangt wirklich niemand. Aber für die Wahrung ihrer ganz pragmatischen Interessen braucht sich diese International Community keinen Deut um BiH zu scheren, und sie muss auch keine Verschwörungen weder in Banja Luka noch in Sarajevo in die Wege leiten. Sie kann ja ganz einfach ihre Grenzen zu machen, den Dingen ihren Lauf lassen und weiter Autos verkaufen. Mit solcher pragmatischer Logik kann jeder Politiker in der EU mindestens so viele Stimmen gewinnen, wie Herr Dodik zu Hause mit seinen absurden Phantasien. Wenn wir schon nicht annehmen wollen, dass die Bürger der EU sich aus Menschenfreundlichkeit Sorgen um das Wohlergehen der Bürger in Südosteuropa machen, dann doch wenigstens dies: dass sie es aus ganz egoistischen Gründen tun. Die meisten von ihnen geben nun einmal lieber einen Euro dafür her, dass jemand in Tuzla bleibt, als dass sie ihn geben, wenn dieser jemand schon in der Münchener Fussgängerzone steht. Da ist man in der EU nicht viel menschenfreundlicher als auf dem Balkan. Woher auch!

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Es wären der Widersprüche für das eintägige menschliche Fassungsvermögen wirklich mehr als genug, wenn nicht die Kirche noch fehlte, die uns an diesem Montag mit der Idee erfreut, die Urne des Herrn Nikola Tesla in das Heiligtum des Sava zu überführen und unter einem Monument endgültig der Erde zu übergeben. Großes kann sich nur mit Großem verbinden, um sich gegenseitig der Größe zu vergewissern. Wie der Patriarch nach der Entscheidung sagte: „Nichts ist natürlicher“ als eine solche Verbindung. Wie dumm ist doch der Vatikan, dass dort niemand bisher auf die Idee kam, man könnte die Gebeine Galileis oder des Kopernikus in die Krypta von Sankt Peter holen und sie zwischen zwei geeigneten Päpsten eingraben, wo sie jener Auferstehung harren sollen, die Herr Dodik dem „Leichnam des Staates Bosnien und Herzegowina“ so beharrlich abspricht.

Noch einmal Bert Brecht für Herrn Dodik:

Alle zehn Jahre ein großer Mann.
wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.

März 2014

 
PS: alle erwähnten Ereignisse sind 5 Seiten des täglichen serbischen Nachrichten-Dienstes V.I.P.-News vom 3. März entnommen. Es war der Karnevals-Montag. Aber am Karneval kann es nicht liegen, denn schließlich liegt der Balkan ja nicht in der Karibik. Dort liegt nur das balkanische Geld.

Autor ist Direktor der CEEOL (Central and Eastern European Online Library).

Peščanik.net, 08.03.2014.

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  1. „Oh, was für Zeiten, und was für Sitten!“ Erste Rede von Cicero gegen Catilina, Rom 63 vor Chr.